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Gastaufsatz
Von Emma Camp
Frau Camp ist Redaktionsassistentin bei Reason, einer libertären Zeitschrift.
Wenn überhaupt, würden nur wenige Psychologen sagen, dass die Vorliebe für natürliches Licht, das Kritzeln im Unterricht oder gar die Identifikation als LGBTQ ein Zeichen für ADHS oder Autismus ist.
Und doch versucht überall, wo ich im Internet nachschaue, jemand eine Diagnose bei mir zu stellen, indem er „Symptome“ verwendet, die nichts mit klinischen Diagnosekriterien zu tun haben. Videos mit Titeln wie „6 Anzeichen dafür, dass Sie möglicherweise ADHS haben“ und „Anzeichen dafür, dass Sie möglicherweise eine Zwangsstörung haben“ können Millionen von Aufrufen erzielen. Darin ermutigen mich „Befürworter der Neurodiversität“, darüber nachzudenken, welche meiner Persönlichkeitsmerkmale stattdessen ein Zeichen für eine psychische Erkrankung oder Neurodiversität ist.
In vielen Online-Kreisen – insbesondere denen, die von jungen, weißen Frauen aus der Mittelschicht wie mir frequentiert werden – werden bestimmte Diagnosen wie Sternzeichen oder Myers-Briggs-Typen behandelt. Früher handelte es sich in erster Linie um schwerwiegende Erkrankungen, für die man sich vielleicht schämen musste. Ohne soziale Stigmatisierung fungiert der Status der psychischen Gesundheit nun als eine weitere Kategorie in unserer sich ständig erweiternden Identitätspolitik und verändert die Bedeutung einer psychischen oder neurologischen Störung für eine Generation junger Menschen, wenn auch nicht ganz zum Besseren.
Bei mir wurde Autismus erstmals im Alter von 20 Jahren diagnostiziert, kurz nach meinem zweiten Studienjahr. Nach meiner kostspieligen Beurteilung war ich erleichtert. Zu wissen, dass ich Autismus habe, gab mir die Erlaubnis, meine Macken und Unsicherheiten zu akzeptieren.
Die Erkrankung wurde schnell zu einem zentralen Bestandteil meiner Identität. Ich schloss mich einer sensorischen Theatergruppe an meiner Hochschule an, gab in den sozialen Medien stolz bekannt, dass ich #ActuallyAutistic bin, und richtete eine wiederkehrende Spende an eine Organisation für Autismusrechte ein. Die darauf folgende gesellschaftliche Anerkennung machte süchtig. Je mehr ich über Autismus sprach, desto mehr Möglichkeiten boten sich mir, ob es sich nun um Aufsatzmaterial für die Graduiertenschule handelte oder um einen Nebenjob als Berater für eine Studie. Die Diagnose hatte sich zu einem zentralen Teil meines Selbstverständnisses herauskristallisiert. Ich hatte nicht nur Autismus. Ich war Autist.
Und ich war nicht allein. Es ist weit verbreitet, sich lautstark mit einer Diagnose zu identifizieren, insbesondere im Internet, wo Offenlegungen gegenüber Familie und Freunden zu öffentlichen Erklärungen über unsere persönlichen Marken geworden sind.
Auf Plattformen wie TikTok und Instagram haben Inhalte von Influencern für psychische Gesundheit, die Ratschläge und nachvollziehbare Anekdoten bieten, die Integration medizinischer Etiketten in die Identität beschleunigt. Diese Influencer zeigen die attraktivsten Elemente ihrer Erkrankung und verkörpern eine ästhetische Sicht auf alles von Neurodiversität bis hin zu psychischen Erkrankungen. Ein ästhetisiertes Etikett wird mit passendem Merchandise geliefert (Flaggen, Zappelspielzeug, Malbücher). Es gibt „Happy Stimming“-Autismus-Influencer und Seiten, die sich mit kleinen Cartoons über Zwangsstörungen befassen. Eine solche Ästhetisierung verflacht die schwierige Realität des Lebens mit einer psychischen oder neurologischen Störung auf kaum mehr als niedliche Produkte und Persönlichkeitsmerkmale.
Der Reiz eines abgeflachten Etiketts besteht darin, dass es häufigen Unsicherheiten einen Sinn verleiht. Desorganisation kann ADHS sein; Soziale Unfähigkeit kann Autismus sein. Dieser Ansatz bietet eine schnelle Linderung vieler zentraler Ängste im Leben von Teenagern und jungen Erwachsenen. Bin ich seltsam? Stimmt etwas mit mir nicht? Ist das normal? Was Sie beim Zucken zusammenzucken lässt, ist nicht Ihre Schuld und es ist nichts, wofür Sie sich schämen müssen. Es ist das, was Sie einzigartig macht.
Aber wenn man die Bezeichnungen für psychische Gesundheit auf kaum mehr als Persönlichkeitstestergebnisse reduziert, besteht die Gefahr, dass unsere Kultur diese Erkrankungen – und die Menschen, die behaupten, sie zu haben – weniger ernst nimmt.
Eine sichtbare Konsequenz ist, dass die Selbstdiagnose häufiger der klinischen Bewertung vorgezogen wird. Wenn Etiketten zur psychischen Gesundheit in erster Linie als Hilfsmittel zur Verbesserung der Selbsterkenntnis dienen, ist jeder genauso qualifiziert, psychische Erkrankungen zu diagnostizieren wie ein Therapeut oder Arzt. Die Influencer im Bereich der psychischen Gesundheit, die diese Perspektive am häufigsten vertreten, posten Videos, in denen häufig fragwürdige Symptome beschrieben werden, die offenbar besonders viele Aufrufe erzielen.
Angesichts der psychischen Krise unter amerikanischen Jugendlichen besteht der Reiz der Selbstdiagnose darin, dass es für junge Erwachsene, die eine klinische Untersuchung anstreben, oft schwierig ist, eine solche zu erhalten. In den Vereinigten Staaten werden Untersuchungen von Erwachsenen zu Erkrankungen wie Autismus und ADHS häufig nicht von der Versicherung übernommen. Wenn sie abgedeckt sind, können sie immer noch teuer sein – meiner kostete über 500 US-Dollar. In Ländern wie Kanada und Großbritannien können die Wartezeiten für Tests Jahre lang sein.
Der Erhalt einer angemessenen psychischen Gesundheitsversorgung hängt jedoch letztendlich von der Sicherstellung einer klinischen Diagnose ab. Bei Erkrankungen, bei denen psychiatrische Medikamente häufig hilfreich sind, wie etwa ADHS oder Zwangsstörungen, ist eine klinische Diagnose eine Voraussetzung für die Einnahme kritischer Medikamente. Aber selbst in Fällen, in denen Medikamente nicht routinemäßig verschrieben werden, bietet eine formelle Beurteilung eine objektivere Analyse der Symptome und Verhaltensweisen einer Person und erleichtert so die Bereitstellung maßgeschneiderter psychosozialer Dienste.
Während es angesichts der unzugänglichen psychischen Gesundheitsversorgung leicht sein könnte, die Ästhetisierung der psychischen Gesundheit als eine Hinwendung zur Pop-Psychologie darzustellen, ist die Realität komplexer. Es lohnt sich darüber nachzudenken, welche neuen gesellschaftlichen Zwänge manche Menschen zu Etiketten verleiten könnten, die letztlich bedeuten, dass sie psychisch krank sind.
Weiße Frauen sind seit langem anfällig für ästhetisch akzeptable psychische Erkrankungen, von der Teenager-„Hysterie“ des 19. Jahrhunderts bis zu den „Pro-Magersucht“-Webforen der frühen 1970er Jahre. Die Ästhetisierung der psychischen Gesundheit ist eine weitere Version dieser Vorliebe, die mittlerweile in der intersektionalen Identitätspolitik der 2020er Jahre verwurzelt ist.
Bei der Identitätspolitik, die am häufigsten in linken Internetkreisen anzutreffen ist, sind unveränderliche Identitätsmerkmale wie Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung die wichtigsten Merkmale einer Person und geben den Angehörigen bestimmter historisch benachteiligter Gruppen besondere Autorität, sich zu Themen zu äußern, die ihre Gemeinschaft betreffen. Unter vielen linksgerichteten jungen Menschen räuspert man sich ständig – „als queere Person“, „als Frau of Color“ – Phrasen, die verwendet werden, um epistemische Autorität zu behaupten oder Vorwürfen des Fehldenkens auszuweichen. Ich selbst habe so manchen Satz mit „als autistischer Mensch“ begonnen, um Kritik vorzubeugen.
Diese Art von Identitätspolitik schafft einen perversen Anreiz, so viele „benachteiligte“ Kisten wie möglich einzusammeln. Für diejenigen, denen diese Politik sonst möglicherweise wenig Beachtung schenkt, bietet ein identitätsstiftendes Etikett zur psychischen Gesundheit einen Anspruch auf Unterdrückung. Was einst ein trockenes medizinisches Etikett war, ist heute das, was einen würdig macht.
Aber Diagnosen zur psychischen Gesundheit sind wie die meisten anderen Kategorien, die im Rahmen unserer Identitätspolitik untersucht werden, Geburtsunfälle. Sie zu zentralen Bestandteilen unserer Identität zu machen bedeutet, uns auf die Dinge zu konzentrieren, die wir nicht selbst kontrollieren können – ein Ansatz, der letztlich entmachtet.
Unsere Kultur muss sich von der restriktiven Form der Identitätspolitik verabschieden, die Individuen zu Totems für viel größere Gruppen macht und einen bizarren Anstoß dafür gibt, dass ansonsten privilegierte junge Erwachsene sich danach sehnen, benachteiligt zu werden. Die Probleme, die viele Formen der Identitätspolitik lösen wollen – unter anderem Rassismus, Sexismus, Homophobie –, sind reale, drängende Probleme. Allerdings wird es keine Lösung sein, die intersektionale Identitätsprüfung zur vorrangigen Art und Weise zu machen, wie Individuen sich selbst wahrnehmen.
Fast drei Jahre nach meiner Diagnose stehe ich der Bezeichnung immer ambivalenter gegenüber. Es ist kein zentraler oder gar relevanter Teil meines Selbstverständnisses. Ich habe immer noch viele der gleichen Eigenheiten wie vor drei Jahren, aber ich muss mich nicht auf meinen Autismus fixieren, um sie zu akzeptieren. Ab einem bestimmten Punkt fühlte es sich einschränkend an, meine Identität auf eine neurologische Erkrankung zu konzentrieren.
Auch wenn unsere unveränderlichen Identitätsmerkmale uns sicherlich prägen und nicht ausgelöscht werden sollten, sind sie doch kaum alles. Was uns zu interessanten und wertvollen Menschen macht, sind nicht die Umstände unserer Geburt – oder unsere gestörte Psyche –, sondern die Entscheidungen, die wir treffen, und die Ideen und Menschen, die uns am Herzen liegen.
Emma Camp (@emmma_camp_) ist Redaktionsassistentin bei Reason, einer libertären Zeitschrift.
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